25.09.15

Videospiele: Der Traum vom Fotorealismus

„Ich habe einen Traum.“ Dieses berühmte Zitat lässt sich ohne langes Überlegen Martin Luther Kings Rede aus dem Jahr 1963 zuordnen. Doch Banausen die wir sind, schnappen wir uns das Zitat und ordnen es einfach so etwas Banalem wie Videospielen zu! Und es stimmt, die Branche hat seit gefühlt zwanzig Jahren einen ganz eigenen Traum: fotorealistische Grafik. Gut, ihr habt ja recht, das ist eine furchtbare Einleitung zum Thema Grafik in Videospielen, machen wir also schnell weiter.

Spiele sind im Verlauf ihrer kurzen Geschichte immer aufwendiger und vor allem realistischer geworden. Am auffälligsten ist der technische Fortschritt bei der Grafik. Es war ein langer und manchmal steiniger Weg von groben Pixelfiguren ohne bewegte Hintergründe bis hin zu den komplexen Welten, detaillierten Charakteren, authentischen Schatten, butterweichen Animationen und perfekten Spiegelungen, die es heute gibt. Seit die 3D-Grafik in Spielen aus dem Gröbsten heraus ist, spätestens aber seit Mitte der 2000er, spricht die Industrie immer häufiger von Fotorealismus. Also der Idee, dass sich Spiele auch bei näherem Betrachten nicht von der echten Welt unterscheiden lassen.

Das Thema bringt viele Fragen mit sich, etwa: Woher kommt der Drang zum immer opulenteren Grafik-Bombast? Wie weit sind wir von Fotorealismus entfernt? Warum ist das wichtig für das Spielerlebnis? Was kostet das eigentlich? Und wie viel Sinn macht das Thema Realismus in einem Bereich, der viel mehr den Eskapismus zelebriert? Wir versuchen uns an ein paar Antworten.

Das Video genau wie das Titelbild wurden von dem Grafiker Kooooola erstellt und stammen aus einem Unreal Engine 4-Projekt.

Die Grafik ist das Medium

Warum ist das Streben nach fotorealistischer Grafik so etwas wie der heilige Gral der Industrie? Die Antwort ist simpel, Grafik ist einfach enorm wichtig für Spiele. Damit beginnt alles, das ist, was der Spieler sieht. Die Webseite Rock, Paper, Shotgun bringt es wunderbar auf den Punkt: „Zu sagen, Grafik sei unwichtig, das ist ungefähr so als würde man behaupten, der Buchdruck wäre unwichtig für die Literatur. Denn Grafik ist nicht Teil eines Mediums, es ist das Medium.“ In diesem Sinne möchten wir auch direkt die alte Debatte Grafik vs Gameplay mehr oder weniger unbeachtet aus dem Weg räumen, schließlich bedingt die Grafik das Spielgefühl zumindest in Teilen. Natürlich lässt sich so ziemlich jedes Spiel auf ein Kernelement herunterbrechen und so minimalistisch wie möglich gestalten, das würde sich dann aber auch anders spielen. Ergo ist Grafik wichtig für Entwickler, aber auch viele Spieler interessieren sich für die technischen Möglichkeiten. Diese „Grafikhuren“ haben Spaß daran, eine riesige, detailreiche Welt zu erkunden, wundervoll dargestelltes Wasser zu betrachten, durch voluminösen Rauch zu schreiten und so weiter. In diesem Sinne birgt moderne Grafik einen gewissen Spielspaß in sich, der nichts mit dem eigentlichen Spiel zu tun hat.

Immer diese Shooter

 Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde die Frage nach Fotorealismus erstmals ein ernstzunehmendes Thema. Zu dieser Zeit erschienen einige grafische Meilensteine, die mit speziell gerenderten Szenen sogar den direkten Vergleich zur echten Welt suchten. Das waren beispielsweise Stalker: Shadow of Chernobyl von GSC Game World (übrigens lange bevor das Spiel tatsächlich auf den Markt kam) oder auch das aus Deutschland stammende Far Cry. Weitere Titel, die merklich etwas bis dato nicht Gesehenes boten, waren Doom 3 mit seinen realistischen Schatten und Half-Life 2 mit der glaubwürdigen Spielfigur Alyx Vance. Danach gab es nicht mehr den einen großen Sprung nach vorne sondern vielmehr eine kontinuierliche Weiterentwicklung mit etlichen Detailverbesserungen.

Spannend an diesen und vielen modernen Beispielen ist, dass sich das Thema Fotorealismus sehr häufig um Ego-Shooter dreht. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist das Genre sehr beliebt und mit am meisten von seiner grafischen Darstellung abhängig, im Gegensatz zu Strategiespielen beispielsweise. Außerdem setzen die Entwickler von Shootern sehr häufig auf real existierende Waffen und Szenarien, die Spielwelt hat korrekte Größenverhältnisse. Da liegt es nahe, Inspiration von der echten Welt zu nehmen beziehungsweise ihr nachzustreben. Doch mindestens ein weiteres Genre ist häufig Teil der Debatte, namentlich Rennspiele. Auch hier setzen so ziemlich alle Entwicklerstudios auf sehr aufwendige, realistische Grafik und versuchen, die echte Welt samt ihren tatsächlich existierenden Fahrzeugen so detailgetreu wie möglich nachzubauen. Rollenspiele, Adventures oder auch Jump’n’Runs hingegen sind meist in Fantasywelten angesiedelt und lassen nur selten einen Vergleich mit der Realität zu.

Hollywood-Niveau in zehn Jahren

Was wir vielleicht längst hatten sagen müssen: Fotorealismus ist heute machbar! Das beweisen einige Hollywood-Filme mit ihrem beeindruckenden CGI, das sich, wenn gut umgesetzt, nicht von der echten Welt unterscheiden lässt. Hollywood hat aber einen nicht zu verachtenden Vorteil gegenüber Videospielen: unendliche Renderzeit. All die beeindruckenden CGI-Szenen werden stunden-, teils tagelang von Computer berechnet. Bei Videospielen hingegen bestimmt der Spieler ständig die Kameraperspektive, ergo muss alles in Echtzeit berechnet werden. Macht aber nix, ein Ende des Dilemmas ist in Sicht! Zumindest wenn man Tim Sweeney von Epic Games glaubt: „Wir sind fast an dem Punkt, an dem CGI-Menschen in Filmen als fotorealistisch durchgehen […] Bei Videospielen und ihrer Echtzeitgrafik hängen wir ungefähr zehn Jahre hinterher.“

Es gibt auch heute schon Spieleprojekte, die mit fotorealistischer Grafik werben. Häufig sind das aber keine offiziellen Spiele sondern Mods, die alles aus einem bestehenden Grafikgerüst herausholen. So gibt es beispielsweise die kostenlose Erweiterung iCEnhancer für GTA 4 oder auch diverse Cinematic-Mods für Klassiker wie Half-Life 2, die das leicht betagte Spiel auf ein ganz neues Level heben. Das heißt aber nicht, dass die Freizeitentwickler besser sind als Profi-Studios. Sie müssen nur nicht darauf achten, ob ihr fertiges Produkt auf einem System mit begrenzt potenter Hardware läuft. Und genau das ist ein wichtiger Punkt, warum Spielgrafik nur in kleinen Schritten besser wird. So ziemlich jedes teurere Projekt erscheint auf Konsolen wie PlayStation 4 oder Xbox One, und deren Hardware-Leistung ist auf Jahre hinaus festgesetzt. PC-Fans und Zyniker sehen es auch gerne so, dass die grafischen Möglichkeiten künstlich begrenzt werden.

Je subtiler desto teurer

Die Hardware wird immer besser, Grafikengines stetig weiterentwickelt. Da ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis wir beim Fotorealismus sind, oder? Nun, das stimmt nur so halb, denn gerade die Detailverbesserungen bringen enorme Kosten mit sich. Eigentlich sehen Spiele seit schon rund fünf Jahren ziemlich gut aus. Jetzt sind wir an dem Punkt, wo wir für bessere Ergebnisse immer mehr Animatoren brauchen, mehr Leute, die noch schärfere, noch größere Texturen zeichnen. Das alles kostet jede Menge Kohle, und Großproduktionen sind ohnehin schon auf dem Niveau von Hollywood-Blockbustern. Mal ein Beispiel dafür, womit sich Grafiker heute beschäftigen, es spricht Phil Scott von Nvidia: „Haut ist ein echtes Problem. Sie nimmt Licht von der Umgebung auf, das sich in den ersten paar Milimetern des Fleischs verteilt und dann auf der anderen Seite gefärbt wieder heraustritt. Das sieht man deutlich, wenn man seine Hand vor ein helles Licht hält, dieses rote Leuchten um die Ränder.“ Und das ist nur ein Beispiel, auch Augen oder lange Haare sind solche „Problemzonen“, die sich nur mit riesigem Aufwand bewältigen lassen, siehe etwa das letzte Tomb Raider mit seiner TressFX-Haarsimulation.

Bleiben wir noch dabei. Schon heute kommen Charaktere in Spielen lebensecht rüber, doch irgendwie fehlt ihnen immer etwas Menschliches, das man kaum beschreiben kann. Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff aus den 1970er Jahren, der von dem japanischen Robotiker Masahiro Mori geprägt wurde: Uncanny Valley. Demnach fallen die kleinsten Fehler umso mehr auf, je authentischer die sonstige Darstellung ist. Dieses Phänomen kennt ihr bestimmt aus dem täglichen Sprachgebrauch. Wenn jemand in einer Fremdsprache sehr schlecht ist, verzeiht man so ziemlich alles, solange die Kernbotschaft verständlich ist. Wer aber eine Sprache fließend beherrscht und dann einen seltsamen Fehler macht, der wird schnell schief angeguckt. 

Von diesen subtilen Kleinigkeiten, die erst für eine realistische Optik sorgen, gibt es unendlich viele. Dennoch scheint es fast egal, wie weit die Technik ist, ein paar Dinge ändern sich einfach nicht. Etwa dass Menschen Gegenstände, gerade kleinere, nicht korrekt umfassen. Oder dass sie Türen öffnen, ohne die Klinke richtig herunterzudrücken. Oder der Klassiker schlechthin, dass Treppen mehr hinauf- beziehungsweise hinuntergerutscht werden statt jede Stufe realistisch zu nehmen. Ähnliches gilt auch für große simulierte Welten. Selbst wenn diese aufwendig gestaltet sind und Zerstörung zulassen, so ist sie nie komplett glaubwürdig. Sei es, weil die riesige Welt eines GTA mehr an ein Filmstudio erinnert, weil man nicht jede einzelne Tür öffnen kann, oder weil die zerstörbaren Umgebungen eines Battlefield die Zerstörungsmöglichkeiten der Spieler begrenzen.

Neue Spiele dank Fotorealismus?

 Wie wichtig ist realistische Grafik eigentlich für Spiele? Die Antwort lautet: Kommt drauf an, wen man fragt. Phil Scott von Nvidia etwa ist der Meinung: „Wenn Videospiele emotionale Geschichten erzählen wollen, dann sind gerade die Kleinigkeiten wichtig. Zum Beispiel bei den Augen, die einen Blick in die Seele gewähren.“ 2K-Chef Christoph Hartmann geht sogar noch einen Schritt weiter: „Solange Spiele nicht fotorealistisch sind, wird es schwer, neue Genres zu erfinden. Momentan sind Actionspiele und Ego-Shooter das Maß der Dinge. Wenn man die Industrie verändern und mehr auf Emotionen setzen will, dann braucht es einfach Fotorealismus.“

Gehen wir kurz mit: Es gibt tatsächlich einige Spielelemente, die sich fast nur mit realistischer Grafik umsetzen lassen. Denkt mal an LA Noire von Rockstar, bei dem man die Gesichtsanimationen und die Körpersprache der digitalen Figuren analysieren musste. In so weit kann man die Aussage von Hartmann nachvollziehen. Doch jetzt folgt das längst überfällige aber! Denn egal, wie toll die Grafik ist, keine noch so gute Technik kann eine langweilige Geschichte spannend oder ein schlechtes Spiel aufregend machen. Gerne lassen wir das Argument gelten, dass man mit modernster Technik Emotionen sehr gut darstellen kann. Aber um beim Spieler Emotionen zu wecken, bedarf es überhaupt keiner aufwendigen Inszenierung, eine mitreißende Geschichte und interessante Charaktere genügen. Dass das Pixelspiel To the Moon die Spieler mit seiner herzzereißenden Story begeistert hat, lag mit Sicherheit nicht an den tollen Gesichtsanimationen! Soll heißen: Technischer Fortschritt geschieht sowieso, in diesem Sinne ist bessere Grafik einfach. Sie bedingt aber kein neues Genre, dafür muss man kreativ werden, sich neue Ansätze ausdenken und sie umsetzen. Und das ist wirklich harte Arbeit!

Gegenentwurf: Abstraktion

Dass realistische Optik teuer ist und nicht immer viel bringt, haben einige Entwickler längst erkannt. Daher überrascht es nicht, dass es gleich zwei Gegenentwürfe zum Streben nach Fotorealismus gibt. Fangen wir an mit den Spielen, die durchaus auf grandiose Grafik und Inszenierung setzen, sich aber bewusst von der Realität verabschieden. Da gibt es zum Beispiel das wunderschöne Alien: Isolation, das enorm detailliert ist und das Flair der Filme perfekt einfängt. Hier ist das Setting zumindest nach aktuellen Maßstäben aber nicht real, man ist auf einer Raumstation unterwegs und flieht vor einem mies gelaunten Alien. Oder auch die Grafikbombe Batman: Arkham Knight. Das Spiel sieht einfach Hammer aus, sei es bei den Animationen oder der Detailfülle. Hier setzen die Entwickler aber auf eine ganz eigene Welt mit anderen Regeln, auch die Proportionen der Charaktere sind nicht realistisch sondern orientieren sich an den Comics. Oder Dishonored, das nun wirklich nicht schlecht aussieht, aber sehr überzeichnet daherkommt. Die Welt wirkt wie gemalt und die Menschen sind überspitzt dargestellt, fast als wären sie Karikaturen. Ein Blick auf eine Figur erzählt bereits viel über den Charakter. Mit einem solchen Ansatz lassen sich auch prima Kosten sparen, weil man bei den Animationen mehr Freiheiten hat.

Der zweite Gegenentwurf lässt sich den seit Jahren enorm populären Indie-Spielen zuordnen. Hier setzt man mehr oder weniger gar nicht auf Grafik sondern eine zentrale Spielidee, die auf interessante Art und Weise umgesetzt wird. Greifen wir uns mal ein paar wenige Beispiele heraus: Da wäre etwa der Zeitreise-Knobler Braid, das mit moralischen Fragen aufwartende Papers, Please, der Baukasten/Welterkundungs-Simulator Minecraft, der 2D-Sidescroller in einer 3D-Welt FEZ oder auch der Spaziergang mit tiefer Geschichte namens Gone Home. Allzu häufig ist die Grafik hier nur Mittel zum Zweck, statt Opulenz setzt man auf Nostalgie. Wobei es Ausnahmen gibt, denn auch kleinere Spiele können fantastisch aussehen, etwa Trine oder Giana Sisters: Twisted Dreams. Natürlich ist die Darstellung überzogen und alles andere als realistisch, das heißt aber nicht, dass es nicht gut ausschaut.

Ein Hoch auf die Vielfalt

Beim Thema Fotorealismus in Videospielen lässt sich kein klares Fazit finden, wohl aber eine Meinung. Die Technik wird auch in den kommenden Jahren immer beeindruckender werden und wir sind uns sicher, dass es irgendwann Spiele gibt, die sich nicht von der Realität unterscheiden lassen. Wir glauben aber auch, dass es sich dabei um einige wenige Titel handeln wird, die auf eine filmreife Inszenierung setzen. Denn am Ende sind Videospiele immer noch genau das: Spiele. Etwas, mit dem man Spaß hat und der echten Welt mit all ihren Problemen entkommen kann. Dafür braucht es keine fotorealistische Grafik, nur spaßige Ideen und tolle Geschichten. Es hat schon seinen Grund, warum Indiespiele nach wie vor so erfolgreich sind. Außerdem können wir uns gut vorstellen, dass es Stimmen gibt, die gerade wegen dem hohen Grad an Realismus gegen fotorealistische Grafik sind, beispielsweise beim Punkt Gewaltdarstellung.

Das Schöne ist, dass man sich nicht für eine Seite entscheiden muss. Es wird immer Spiele geben, die mit ihrer tollen Grafik beeindrucken – auch wir lassen uns von so etwas mitreißen. Aber um auf Dauer zu unterhalten, bedarf es mehr als der Optik. Ein The Witcher 3 zieht mich mit seiner Darstellung in die Welt und lädt mich dazu ein, sie zu erkunden. Doch ich bleibe wegen den Charakteren und der Geschichte für 70 und mehr Stunden bei der Sache. Und es würde uns sehr wundern, wenn es in zehn Jahren keine abstrakten und mutigen Spiele mehr geben würde. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass wir uns nicht über ein Half-Life 3 mit ultra-hohen Details freuen würden!

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