Tim | 24.07.2025

"Wie könnt ihr noch Harry Potter-Merch verkaufen?"
2018 tauchte online ein Schneeball auf. Nur so ein ganz winziges Kügelchen, das so vor sich hin kullerte. Aber über die Jahre mutierte der Schneeball zu einer gigantischen Lawine. Ja, ich spreche von J.K. Rowling und ihren politischen Ansichten zu Transpersonen. 2020 nahm das Ganze richtig Fahrt auf, als sich unter anderem die Schauspieler Eddie Redmayne (Phantastische Tierwesen) und Daniel Radcliffe (Harry Potter) öffentlich gegen die erfolgreichste Autorin der Welt stellten. Und in den fünf Jahren seitdem wurde das alles immer nur krasser, ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil!
Es vergeht keine Woche, in der ich auf den Social Media-Kanälen von Elbenwald nicht mindestens über einen Kommentar oder eine Nachricht mit der Frage stolpere: "Wie könnt ihr immer noch Harry Potter-Merch verkaufen?" Meistens wird die Frage nicht so sachlich gestellt, aber darum geht’s hier nicht. Da die Meldungen zum Thema genauso wenig abreißen wie die Nachfragen, dachte ich mir: Schau dir das doch mal an. Ich (Tim) nehme J.K. Rowling aber nur als Anlass, um die eigentliche Frage für mich persönlich zu beantworten: Sollte man Kunst und Künstler trennen? Wer eine, wenn auch nur partielle Aufdröselung der Kontroverse sucht, dem empfehle ich die Podcastreihe The Witch Trials of J.K. Rowling, die sich ziemlich differenziert damit auseinander setzt.
Darf man heute noch …?
Ich nehm mal das Ende vorweg: Dass es sich bei der Frage, ob man Kunst und Künstler trennen sollte, um eine Einzelfallentscheidung handelt, die jeder für sich beantworten muss, kann man ziemlich einfach illustrieren. Man muss nur das Subjekt in der Frage tauschen. Pass auf:
- Darf man heute noch J.K. Rowling lesen?
Den tausenden Kommentaren, die ich über die Jahre dazu gelesen habe, entnehme ich, dass ziemlich viele Leute die Frage mit einem klaren "Nein" oder zumindest einem "Ja, aber …" beantworten würden. Aber fällt die Antwort bei anderen Künstlern gleich aus?
- Darf man heute noch H.P. Lovecraft oder Neil Gaiman lesen?
- Darf man heute noch Michael Jackson oder Richard Wagner hören?
- Darf man heute noch Filme von Bryan Singer oder James Gunn schauen?
- Darf man heute noch die schauspielerische Leistung von Kevin Spacey oder Shia LaBeouf gut finden?
Ich hoffe, dass du, wie ich, nicht alle Fragen gleich beantwortest. Denn es kann nicht die Lösung sein, dass man alle Menschen stummschaltet, die nicht makellos sind beziehungsweise nicht die Mehrheitsmeinung vertreten. Wo fängt man da an, wo hört man auf? Wer bewertet das überhaupt? Darf man dann wie in der DDR nur noch mit einer Genehmigung auf eine Bühne? Gibt es dann noch so was wie Gangster Rap? Oder überhaupt abweichende Meinungen? Und leben wir dann nicht in einer Welt, die an Ray Bradburys Fahrenheit 451 erinnert?
Kunst vs. Justiz
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das irgendjemand will. Nicht mal die allergrößten J.K. Rowling-Hassenden. Dafür gibt’s auch einfach zu viele Künstler, die irgendwelche Probleme haben. Die vielleicht sogar wegen ihrer Probleme Künstler wurden. Denn natürlich machen auch schlimme Menschen Kunst.
Die Kunst zu erlauben ist ja auch kein Freifahrtschein für alle Autoren, Filmschaffenden, Maler und hastenichtgesehens. Wenn jemand Gesetze bricht, sich menschenfeindlich verhält, zu Gewalt aufruft oder dergleichen mehr, dann muss man was dagegen tun, unabhängig davon, ob es sich um einen Künstler handelt. Dafür gibt’s die Justiz. Denn ein schönes Bild, eine spannende Geschichte oder ein geiler Beat haben nur in den seltensten Fällen was mit illegalen Taten zu tun.
Der Mensch hinter der Kunst
Ein Gegenargument kann ich allerdings total nachvollziehen, nämlich: Dass Künstler auch Menschen sind. Die ihre Werte in ihre Werke einfließen lassen. Und dass man den Menschen beim Erleben der Kunst, egal ob Buch, Film, Bild oder Spiel, mitdenken sollte, finde ich auch richtig. Zumal alle nötigen Infos, danke Internet, gewissermaßen vor der Haustür liegen. Eine Studie des Instituts für Psychologie der Humboldt Universität zu Berlin kam übrigens zu dem Schluss, dass das Wissen um die Probleme eines Künstlers zu einer negativeren Bewertung seiner Kunst führt. Also alles richtig. Oder?
Ich weiß nicht. Irgendwie schon, aber gleichzeitig finde ich es vermessen, zu erwarten, dass man bei jedem Buch, Film oder Musikstück erstmal Wikipedia anwerfen muss, um herauszufinden, ob ich mir das jetzt überhaupt reinziehen darf. Ich zumindest könnte das nicht, allein aus Zeitgründen. Ja, das ist stellenweise ignorant und vielleicht nicht optimal. Aber bei so vielen Serien, Filmen, Büchern und Musikstücken geht es gar nicht anders. Deswegen lese ich den Wikipedia-Artikel nur bei Themen, die mich interessieren, meist wenn ich ein Buch oder einen Film beendet habe. Aber ich sitze nicht mit dem Handy da, wenn ich Radio Paradise höre und wissen will, ob mir der aktuelle Song gefallen darf. Das Wissen um etwaige Kontroversen sollte keine Voraussetzung sein, ob man etwas konsumieren oder gut finden darf. Aber wenn man’s richtig gut findet, kann man sich gerne näher damit beschäftigen.
Ein anderes Gegenargument kann und möchte ich gar nicht entkräften: Dass man durch das Konsumieren einen problematischen Künstler unterstützt, der dann vielleicht was Schlimmes mit dem Geld anstellt. Nicht mal was Illegales, sondern etwas mehr oder weniger Verwerfliches. Wenn beispielsweise Kanye West sein Geld nutzt, um eine seltsame Kampagne zu finanzieren, die ihn zum Präsidenten machen soll. Oder wenn J.K. Rowling ihr Geld, also auch von unserem verkauften Zauberstab, einsetzt, um eine Organisation zu gründen, die sich gegen Transgender-Personen richtet. Das ist nicht cool. Und es ist okay, wenn man da die Grenze zieht. Warum finde ich es dann aber auch okay, Harry Potter-Merch zu verkaufen?
J.K. Rowling ist nicht Harry Potter!
Ja, J.K. Rowling hat Harry Potter erschaffen. Der Junge, der überlebte, teilt sich sogar den Geburtstag mit der Autorin. Das Thema ist aber so groß und hat so viele Menschen auf irgendeine Art und Weise berührt, dass man Werk und Autor gerade in diesem Fall nicht gleichsetzen sollte. Auch wenn George Lucas das vielleicht anders sieht, zu einem gewissen Grad gehört Harry Potter uns allen, die die Bücher gelesen haben. Schließlich liegt die Deutungshoheit über ein Werk beim Leser, nicht beim Autor. Danke, Roland Barthes.
Elbenwald wäre ohne Harry Potter heute nicht da, wo es ist. Und Harry Potter ist immer noch super wichtig. Das Thema zu streichen, würde allein bei uns Arbeitsplätze gefährden. Und das trifft dann Leute, die mit J.K. Rowling so gar nichts am Hut haben. Es trifft Leute, die sich einfach für Harry Potter und viele andere Themen begeistern – und ich persönlich kenne niemanden bei Elbenwald, der transfeindlich ist.
Das Gleiche gilt auch für die vielen tausend Menschen, die an den Filmen gearbeitet haben. Oder jetzt an der Serie. Schauspieler, Autoren, Regisseure, Produzenten, Kameraleute, VFX-Spezialisten, Art Director, Konzeptkünstler, Kostümdesigner, Musiker, Kreaturendesigner, Grafiker, Friseure, Monteure, Prop Master, Setdesigner und all die Leute, deren Namen nur mal kurz in den Credits auftauchen. Die geben gerade alle ihr Bestes, um eine geile Serie auf die Beine zu stellen. Sollen die ihre Leidenschaft und, um etwas extremer zu denken, ihren Job verlieren, weil eine Einzelperson eine politische Ansicht vertritt, die natürlich schwierig ist, mit der Geschichte selbst aber nichts zu tun hat?
Wir feiern das Werk
Zumal wir doch in den allermeisten Fällen das Werk feiern, nicht die Person dahinter. Da können wir, weil’s schön passt, kurz Johnny Depp rauskramen. Ohne J.K. Rowling wäre der vermutlich nie Gellert Grindelwald geworden. Doch dann kam die ganze Amber Heard-Sache auf und wir alle wissen, wie das gelaufen ist. Grindelwald wurde neu gecastet und dass sich Rowling damals hinter Depp stellte, sorgte für einen Riesenaufschrei – das qualifiziert sich fast, aber nur fast, für den Klassiker "Ironie des Schicksals". Denn heute ist Johnny Depp wieder oben auf! Er hat sich zurückgekämpft. Aber warum ist er eigentlich so beliebt? Doch nicht, weil er so ein netter Kerl ist – niemand von uns kennt ihn privat. Wir lieben ihn wegen seiner Rollen. Wegen Jack Sparrow. Edward mit den Scherenhänden. Constable Ichabod Crane.
Ist die Geschichte (Harry Potter) jetzt scheiße?
Kein Buch habe ich häufiger gelesen als Harry Potter. Und ich kenne viele, bei denen es genauso ist. Wir haben die Geschichte geliebt. Sie fast auswendig gelernt. Gemutmaßt, analysiert und diskutiert. Und das war super! Eine Geschichte zu haben, die so viele Kids überhaupt erst zum Lesen gebracht hat. Eine Geschichte, die so sehr für Liebe, Akzeptanz und Offenheit steht. Die uns zum Lachen, Weinen und Nachdenken gebracht hat. Ich wiederhole mich: All das soll jetzt nicht mehr gelten, weil eine Einzelperson bei einem einzelnen Thema eine andere Ansicht vertritt als ihre (ehemaligen) Fans? Obwohl das Thema nicht mal am Rande der Geschichte auftaucht?
In diesem Sinne: Ist American Gods kein einfallsreicher und gut geschriebener Roman, weil Neil Gaiman sich, nach allem, was wir wissen, ziemlich scheiße verhalten hat? Haben die X-Men-Filme nicht trotz der Vorwürfe gegenüber Bryan Singer extrem viel für das Genre der Superheldenfilme geleistet? Hat Baby Driver einem meiner Lieblingsregisseure nicht völlig verdient auf die nächste Stufe geholfen, weil Kevin Spacey mitspielt? "Doch", "doch" und "doch". So beantworte ich die Fragen. Und genauso sehe ich es bei Harry Potter. Ich liebe die Geschichte und bin der festen Überzeugung, dass man sie auch heute noch gewinnbringend lesen kann. Und sollte. Von mir aus sollen die Radikalen da draußen ihre Bücher verbrennen, auch wenn das in ziemlich krassem Kontrast zu der Offenheit steht, nach der die gleichen Leute schreien.
Entscheide für dich, nicht für andere
Ich hab’s schon angedeutet: Am Ende sollte jeder für sich selbst entscheiden, ob Kunst und Künstler getrennt werden sollen. Und das bestenfalls jedes einzelne Mal, wenn eine Kontroverse auftaucht. Du findest es okay, H.P. Lovecraft zu lesen, weil er eh tot ist und nichts Schlimmes mit seinem Geld anfangen kann? Fein! Du willst J.K. Rowling nicht unterstützen, weil sie mit dem Geld Dinge macht, die dir nicht gefallen? Auch fein! Aber lass es doch bitte zu, dass andere die Meinung vielleicht nicht teilen. Und weil ich die Harry Potter-Geschichte unabhängig von Rowlings politischen Ansichten immer noch für eine verdammt gute Geschichte halte, werde ich wohl auch morgen noch meine Videos über Zauberstäbe machen. Die dann hier verkauft werden. Was meinen Job ermöglicht. Denn ich trenne Kunst und Künstler.