Tim | 17.06.2025

Harry Potter: Warum die "größte Fehlbesetzung des Jahrhunderts" vielleicht genau richtig ist
"Die bescheuerste Entscheidung und größte Fehlbesetzung in diesem Jahrhundert […] Ich hoffe dass die da richtig mit auf die Fresse fliegen!"
"Wenn man schon die Charaktere anders als im Quellenmaterial macht, wird sich der Rest auch nicht an den Büchern orientieren. Wird woker Müll und kann weg"
"Werde es nicht schauen, gerade weil ich Fan bin. das tue ich mir nicht an! Free Snape!!!!"
Das sind nur ein paar der Kommentare, die ich (hier schreibt Tim, nicht Elbenwald) gelesen habe, seit Paapa Essiedu als Professor Severus Snape in der neuen Harry Potter-Serie von HBO angekündigt wurde. Und das sind noch die gemäßigten. Ganz schön starke Meinungen, wenn man bedenkt, dass niemand bislang auch nur einen Frame von der Serie gesehen hat. Ich weiß natürlich auch nicht, ob die Serie am Ende gut wird. Aber wäre es nicht schön, wenn diejenigen, die sich so meinungsstark äußern – und in sehr vielen Fällen gleichzeitig nach mehr Offenheit und Toleranz von J.K. Rowling schreien – selbst ein bisschen offener und toleranter wären? Aber gut, schauen wir uns das Thema mal an und beginnen mit der Frage:
Wird Paapa Essiedu ein guter Snape?
Rein logisch müsste jeder diese Frage wie folgt beantworten: keine Ahnung. Weil niemand irgendwas von der neuen Serie gesehen hat. Also stelle ich mir eine andere Frage: Warum regen sich so viele Menschen über ein Casting auf, obwohl sie nicht wissen, wie die Serie wird? Und warum ist ausgerechnet ein schwarzer Snape für so viele Leute der gefühlte Untergang ihrer Kindheit?
Ich selbst gehe an so was immer offen heran. Wenn ich mir nichts anschauen würde, was im Vorfeld gehasst und totgeschrien wird, hätte ich auch Heath Ledger als Joker, Henry Cavill als Superman und Daniel Craig als James Bond verpasst. Für Harry Potter gilt das für mich noch mehr, da ich die Geschichte trotz der anhaltenden Diskussionen immer noch liebe. Wegen seiner Welt, seiner Figuren und der Begeisterung, die es einst fürs Lesen entfacht hat. Ich erinnere mich gerne an die Zeit – es ist gar nicht lange her –, als die Fangemeinde für ihre Leidenschaft und Offenheit bekannt war – nicht für ihre zunehmend hässlichen Kommentarspalten.
It’s not TV. It’s HBO
Ich trete kurz einen Schritt zurück. HBO gilt, nicht zu unrecht, als einer der besten Serienproduzenten der Welt. Klar, die hatten auch ihre Flops. Aber wenn ich an HBO denke, dann denke ich an starke Drehbücher, hochwertige Produktionen und mutige Entscheidungen. Game of Thrones (vor allem die Staffeln 1 bis 4), The Last of Us, Succession, The Sopranos, The Wire, Band of Brothers, Sex and the City, True Detective, The White Lotus, Chernobyl … das sind keine Zufallstreffer! Und bislang wurde HBO immer für seine kreative Freiheit gefeiert. Doch jetzt soll genau das, wegen einer unkonventionellen Castingentscheidung, das Problem sein? Ich glaube ja: HBO hat gute Gründe für seine Wahl. Und bis wir das Ergebnis nicht gesehen haben, gewähre ich einen Vertrauensvorschuss. Wobei, ein Zugeständnis an die aufgebrachten Fans will ich machen. Auch ich schätze es, wenn eine Geschichte nah an der Vorlage bleibt. Nur: Ist die Hautfarbe eines Schauspielers relevant, wenn es darum geht, nah am Buch zu bleiben? Dazu gleich mehr.
Der unkopierbare Alan Rickman
Wenn eine Rolle aus den Harry Potter-Filmen anders gedacht werden muss, dann die von Professor Severus Snape! Alan Rickmans Darstellung war so einzigartig (und genial), dass eine simple Kopie davon zum Scheitern verurteilt ist. Daher finde ich die Wahl, oder besser: die Kühnheit, einen schwarzen Snape zu casten, bewundernswert. Denn Snape ist mit die komplexeste und tragischste Figur der gesamten Harry Potter-Geschichte. Und damit automatisch die Figur, die am meisten zum Interpretieren einlädt.
Und warum sollte man bei Snape nicht experimentieren dürfen? Wenn ich nochmal exakt das Gleiche vorgesetzt bekommen möchte, schau ich mir lieber die Filme nochmal an. Aber einem komplexen Charakter (es folgt ein wichtiges, modifizierendes Wort) potentiell weitere Facetten hinzuzufügen, das finde ich erstmal spannend. Und belegt in meinen Augen überhaupt nicht, dass man sich komplett von der Vorlage verabschiedet. Zumindest für mich ist Snape so spannend wegen seiner Vergangenheit, seinen Gefühlen, seinen Entscheidungen und den Konsequenzen daraus. Er ist nicht spannend, weil er bleiche Haut hat. Und wenn ich mir seine Geschichte so anschaue, entdecke ich für die Serie mehr Chancen als Fallstricke.
Eine starke Geschichte bleibt eine starke Geschichte
Ein Mann, der als Jugendlicher ausgegrenzt wurde, sich den Todessern anschließt, später seine Fehler erkennt und sogar sein Leben opfert, um diese wiedergutzumachen? Das ist eine starke Geschichte! Zumal Snape auch noch ein Halbblut ist und sich einer Bewegung anschließt, deren Standard er gar nicht erfüllen kann, nämlich Blutreinheit. Wenn dieser Mann plötzlich schwarz ist, nimmt das der starken Geschichte nichts weg. Es könnte ihr aber etwas hinzufügen. Zumindest, wenn man es richtig angeht.
Viele Fans diskutieren, dass der Geschichte durch das Casting eine rassischte Ebene hinzugefügt wird, die es zuvor nicht gab; weil James Potter in der Vergangenheit einen schwarzen Schüler mobbt. An dem Argument ist was dran. Vielleicht. Vielleicht macht es James’ Verhalten unentschuldbar. Vielleicht verstärkt es aber auch Snapes Verletzlichkeit – und damit genau das, was seine Geschichte so tragisch macht. Vielleicht aber spielt all das auch gar keine Rolle, denn: Ob Muggel-Vorurteile eins zu eins auf die Zauberwelt übertragbar sind, ist mindestens fraglich. Statt über Hautfarbe wird hier doch viel mehr über reines Blut diskutiert. Eine Diskussion, die nicht wirklich anders, aber genauso unnötig ist wie die Herkunftsvorurteile der echten Welt.
Snape verdient mehr!
Ich weiß nicht, ob Paapa Essiedu ein großartiger Snape wird. Aber ich sehe in dem Casting eine Chance, der Figur neue Facetten zu verleihen. Und vor allem sehe ich keinen Grund, einen Menschen vorab mit Hass zu überschütten, nur weil seine Hautfarbe nicht dem alten Bild oder den eigenen Vorstellungen entspricht. Klar, Fans dürfen enttäuscht sein. Fans dürfen kritisieren. Aber was sich teilweise in den Kommentarspalten abspielt, hat für mich nichts mehr mit Fankultur zu tun. Und ein Mitspracherecht der Zielgruppe halte ich schon seit jeher für einen Fehler.
Niemand ist gezwungen, die Serie zu schauen. Aber wer sich darauf einlässt, könnte vielleicht am Ende überrascht werden. Vielleicht wird Paapa Essiedu kein guter Snape. Vielleicht wird er ein großartiger. Aber eins ist sicher: Gerade diese Figur verdient mehr als Vorverurteilung. Sie verdient die gleiche Tiefe, Komplexität und Offenheit, die sie immer ausgezeichnet hat.