12.05.16

Meinung: Ist Anime nur Kinderkram mit Zeichentrick?

Jeder kennt Anime, von vielen auch einfach “japanische Zeichentrickfilme” genannt. Selbst wer mit dem Thema nichts anfangen kann, hat irgendwann schon von Pokémon, Digimon, Sailor Moon, One Piece, Naruto, Dragonball und Co. gehört. Und wer Anime mag, liebt oder wie ich gern direkt durch die Augen ins Gehirn drückt, kennt vermutlich folgendes Problem: Die Filme und Serien werden gern als kindisch abgetan. Ihr wisst schon, Kinderfernsehen eben. Etwas, aus dem man herauswächst. Womit man sich ab einem bestimmten Alter nicht mehr abgibt. Ich kann heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, wie oft mir meine Familie sagte, ich solle “endlich das Kinderfernsehen ausmachen”. Was ich heute sehr wohl mit Gewissheit, ach, mit dem Brustton der Überzeugung sagen kann: Anime sind kein Kinderfernsehen!

Morde, nackte Haut und Geschlechtertausch

Die erste Frage, die sich mir bei solchen Behauptungen stellt, lautet: Wer entscheidet eigentlich, was kindliche Inhalte sind? Zugegeben, viele Charaktere aus Manga und Anime sind noch sehr jung. Das heißt aber nicht im Umkehrschluss, dass die erzählten Geschichten unschuldiger Kinderkram wären – im Gegenteil! Das eigentliche Problem der Aussage, Anime seien für Kinder, ist, dass sich die wenigsten Leute mit dieser Meinung tatsächlich mit dem Thema beschäftigen. Daher möchte ich mit meinen ganz persönlichen Anime-Erfahrungen gegen dieses Vorurteil vorgehen.

Fangen wir mit Detektiv Conan an: Der junge Detektiv Shinichi Kudo wird durch ein Gift in ein Schulkind zurückverwandelt und klärt nun als Conan Edogawa in der Detektei von Kogoro Mōri Mordfälle auf. Mal abgesehen davon, dass wir es hier mit Zeichentrick und einem jungen Protagonisten zu tun haben, ist Detektiv Conan eine handfeste Kriminalserie! Ganz objektiv betrachtet sind die hier stattfindenden Morde alles andere als kindgerecht. Und dass ein junger Schüler die Fälle schneller und häufiger aufklärt als ein erwachsener Privatdetektiv, ist nun wirklich kein Argument dafür, dass sich die Serie nicht an Erwachsene richtet. (Schließlich haben die Drei Fragezeichen auch ein weitgehend erwachsenes Publikum.) Abseits des Krimi-Genres werden nicht wenige Anime vor der deutschen Ausstrahlung zensiert, eben weil bestimmte Inhalte nicht für Kinder geeignet sind. Das passiert bei Yu-Gi-Oh! genauso wie bei Naruto, auch wenn die Lösungsansätze unterschiedlich sind. Während einige allzu freizügige Charaktere auf den Yu-Gi-Oh!-Karten auf die Schnelle einen Ganzkörperanzug überwerfen, werden bei Naruto bestimmte … sagen wir, sensible Stellen mit Staubwolken oder Nebel verdeckt, wenn der Körper der Figuren im Kampf Schaden nimmt.

Es muss aber gar nicht um Mord und Freizügigkeit gehen, um zu zeigen, wie erwachsen Anime sein können. Und damit zu Themen wie Liebe, Beziehungen oder gar Geschlechtertausch, die nun wirklich vor allem Erwachsene ansprechen. Ein Paradebeispiel dafür, wie man solch harte Kost in einem Anime behandeln kann, ist Ranma 1/2. Da es schon eine Weile her ist, dass der Anime zum Manga von Rumiko Takahashi im Fernsehen lief, ein kurzer Abriss: Der 16-jährige Ranma Saotome soll Akane Tendo heiraten, die Verlobung wurde von den Vätern der beiden arrangiert. Eine verzwickte Situation für Ranma, schließlich fiel er einst in eine verfluchte Quelle, in der ein Mädchen ertrunken war. Die Folge: Ranma verwandelt sich selbst in ein Mädchen, sobald er mit kaltem Wasser in Berührung kommt! Seinen männlichen Körper erhält er folgerichtig zurück, wenn er mit heißem Wasser übergossen wird. Wer die Serie nicht kennt, schmunzelt vielleicht bei der Beschreibung. Tatsächlich ist die Geschichte aber voller Romantik, Witz und sexueller Anspielungen, die nur Erwachsene wirklich verstehen.

Neben den Serien wollen wir auch die vielen berühmten Anime-Filme nicht vergessen, etwa vom renommierten Studio Ghibli. Ob Prinzessin Monoke, Chihiros Reise ins Zauberland oder Das wandelnde Schloss, all diese Filme sind weltweit bekannt und behandeln tiefgründige Themen, die für manche Kinder zu dunkel oder gruselig sein dürften. In Die letzten Glühwürmchen etwa wird der Weg zweier Geschwister beschrieben, deren Vater im zweiten Weltkrieg gefallen ist und deren Mutter ihren Verletzungen nach einem Brandbombenanschlag erlag. Hier ist nicht nur das generelle Setting enorm düster, sondern auch die Handlung an sich. Direkt zu Beginn wird vorweggenommen, dass unsere jungen Protagonisten nicht überleben. Damit sprechen die Macher eindeutig eine eher ältere Zielgruppe an, als es der Zeichenstil vermuten lässt.

Gemeinsames Aufwachsen & Quell der Inspiration

War das damals schön: Nachmittags von der Schule kommen, mit Freunden treffen und – genau, Anime schauen! Und nicht nur anschauen, sondern auch spielen, sei es Pokémon auf dem GameBoy oder Yu-Gi-Oh! als Kartenspiel. Viele der Serien haben uns geprägt und nie mehr losgelassen. Die meisten von uns sind längst über 30 Jahre alt und noch genauso begeistert wie damals, als wir das Schulzeug in die Ecke geschmissen und den Fernseher einschalteten. (Manchmal haben wir auch zuerst die Hausaufgaben erledigt, das gehört hier aber nicht hin.) Ich für meinen Teil kann klar sagen, dass ich mit meinen Lieblingscharakteren erwachsen wurde. Was nicht zuletzt daran lag, dass meine Lieblingsfiguren mit mir gemeinsam aufwuchsen! Son-Goku etwa wurde in Dragonball vom Kind zum Jugendlichen und schließlich zum Mann, heiratete Chichi und wurde sogar zweifacher Vater! Ganz ähnlich war es in Naruto: Auf seiner Reise mit dem Ziel, Hokage von Konoha-Gakure und von jedem respektiert zu werden, entwickelte sich Naruto vom Jungen zum Mann, inklusive Heirat und Kinder. Oder anders ausgedrückt: Die Figuren begleiteten uns beim Erwachsenwerden genauso wie wir ihren fiktiven Lebensweg miterlebten.

Das Gefühl, das uns Anime geben, kann uns das ganze Leben lang begleiten und aktiv beeinflussen. Denkt nur mal an die Intros: “Ich will der Allerbeste sein, wie keiner vor mir war!” (Entschuldigt bitte, falls ich jetzt einen Ohrwurm ausgelöst habe.) Was die Inspiration eines Anime-Songs bewirken kann, zeigt Marik Roeder, besser bekannt als Animationskünstler DarkViktory, auf YouTube. In der Doku über seine millionenfach gesehene und mehrfach mit dem Deutschen Webvideopreis ausgezeichnete Animationsserie #TubeClash meinte er, dass er sich speziell durch das Intro der ersten Digimon-Serie inspiriert fühlte. An seinem elften Geburtstag im Jahre 2000 habe er zum ersten Mal das Titellied “Leb’ deinen Traum!” gehört, was ihn bis zur Verwirklichung von #TubeClash 2014 und darüber hinaus begleitete. Die Serie ebnete Roeder in gewissem Maße also die eigene Karriere, einem wichtigen Teil des Erwachsenenlebens. Auch abseits von YouTube sind Manga und Anime ein möglicher beruflicher Startpunkt, gerade für angehende Zeichner. Nicht wenige Künstler beginnen ihren Weg, indem sie sich bekannte Charaktere als Vorbild nehmen und Dōjinshi anfertigen. Das sind gezeichnete Fan-Geschichten, die gerne mal alternative Liebesgeschichten ergründen. Daraus kann sich aber deutlich mehr entwickeln, siehe beispielsweise die bekannte deutsche Zeichnerin Reyhan Yildirim (Tylsim, Grimms Manga Sonderband).

ACHTUNG! Nicht jugendfrei!

Bei vielen Anime – das mag einige überraschen, die Anime für Kinderkram halten – findet man die Altersbeschränkung ab 16 oder gar ab 18 Jahren. Deshalb werden diese, wie zum Beispiel bestimmte Horrorfilme, nur nachts ausgestrahlt. Spätestens jetzt sollte man begreifen, dass der Inhalt dieser Geschichten nicht für kleine Kinder geeignet ist. Hier sind besonders die Genre Seinen und Hentai vertreten, die sich mit Gewalt und Sexualität auseinandersetzen. Ob Deadman Wonderland oder Attack on Titan, hier fließt einiges an Blut und es sterben wahrscheinlich mehr Menschen, als es für das kindliche Verständnis gesund ist. Genau solche Inhalte können unter Umständen bei der Argumentation hilfreich sein, warum Anime eben nicht per se Kinderkram sind. Ich selbst habe meinen kleinen Familienstreit etwa gewonnen, indem ich die erste Folge Elfen Lied vorführte – eine solche Schocktherapie ist aber nicht für jeden geeignet.

Die Frage ist ohnehin eine andere: Muss man Anime-Kritiker überhaupt überzeugen, dass es sich nicht um Kinderfernsehen handelt? Ich denke: Das kommt auf den Gegenüber an. Hat man es beispielsweise mit jemandem zu tun, der sich für andere Fandoms und Nerd-Themen interessiert, besteht eine reelle Chance, ihn oder sie auch für die vielseitigen Anime zu begeistern. Wenn aber jemand solchen Themen komplett ablehnend gegenübertritt, kann man nur sehr langfristig für Erleuchtung sorgen, beispielsweise mit Meinungsbeiträgen wie diesem hier. Das war früher bei Fantasy, Science-Fiction, Videospielen und so weiter schließlich auch nicht anders.
Hattet ihr auch schon häufiger Probleme damit, dass eure geliebten Anime-Serien (oder jeder andere Themenbereich wie Videospiele) als Kinderkram abgetan werden? Wie seid ihr damit umgegangen?

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